von Dietmar Dath
Wenn ein Schriftsteller Thema und Stoff, Gattung und Stilgestalt beim literarischen Kunstwerk unterscheiden kann, gehört er eigentlich nicht in die dumme Gegenwart, sondern in eine Vergangenheit, deren Verschwinden wir bedauern dürfen, oder in die Zukunft, für die wir arbeiten sollten. Denn in der Gegenwart findet man leider kaum noch jemanden, zumal in Deutschland, der zum Beispiel weiß, dass und warum etwa Goethe und Thomas Mann für ihren jeweiligen „Faust“ zwar denselben Stoff – eben die Faustlegende – , aber nicht nur verschiedene Gattungen, nämlich Roman und Stück, sondern auch verschiedene Themen bearbeitet haben. André Müller sen. hat die Unterschiede und Beziehungen von Thema und Stoff, Gattung und Stilgestalt in zwei Büchern über Shakespeare von der analytischen Seite aus erhellt. Er tat das an diesem größten aller literarischen Gegenstände so gründlich, dass der Forschung nur noch die Aufgabe bleibt, Milliarden von Einzelheiten zu klären, die Müllers Lesart freilich alle bestätigen werden.
Außer analytischen Taten hat Müller auch synthetische, im engeren Wortsinn schöpferische Leistungen erbracht. Hierbei hat er stets gewusst, welche Gattung zu welchem Thema und welches Thema zu welchem Stoff passt. Die politische und ästhetische Kümmerlichkeit der Hauptströmung von „Achtundsechzig“ (es gab auch interessante Nebenereignisse) hat er als Gammlergroteske in „Am Rubikon“ erzählt. Dass sich die Figur „nützlicher Idiot“ nicht nur für Politik eignet, sondern auch für Kunst, hat er in der Fraktionsmacher- und Fraktionsüberwinder-Satire „Die Partei der Knoblauchfreunde“ schlagend bewiesen (Kunst über einen nützlichen Idioten geht nur, wenn der nützliche Idiot nicht in erster, sondern nur in zweiter dialektischer Linie ein Idiot ist, in erster Linie aber wirklich nützlich; bei Müller ist er sogar erbaulich).
Dass die Deutschen einmal ein Land hatten, in dem sie Dinge ausprobieren durften, die anderen Nationen ihre ganze Ehre gestiftet haben, Produktives, Emanzipiertes, und dass die Deutschen dieses Land dann leider nicht halten konnten – für dieses bedeutende, schlimme Thema fand Müller abermals den richtigen Stoff, eine Liebesgeschichte, und die richtige Gattung: den großen Roman. Er heißt „Anne Willing“.
Wer die Stimmigkeit der Konstellationen von Stoff, Thema und Gattung an Müllers Werken kennen und schätzen gelernt hat, wird auch keine Mühe haben, die höchste Ebene der Lektüre zu erreichen: Die, auf der sich das Wesen der Werke in ihrer richtigen Stilgestalt verwirklicht. Bei André Müller gibt es für den bestimmenden Wesenszug dieser Stilgestalt einen sehr kurzen, einfachen Namen: Hochdeutsch.
Wenn dieser Schriftsteller in „Am Rubikon“ nicht „Demonstranten“ sagt, sondern „Umzügler“, und wenn er in „Die Partei der Knoblauchfreunde“ statt „dialektische Analyse“ die Wendung „Kunst der sich widereinander bewegenden Zergliederung“ sagt, dann sind das nicht die Mätzchen, die Humoristen treiben, wenn sie den Zerfall der einstigen Fähigkeit des Bürgertums, die Welt auf den Begriff zu bringen, mit melancholischen Scherzen begleiten wie dem, statt „Hosen“ immer mal wieder „Beinkleider“ zu sagen. Was bei den Spaßmachern, selbst den besten, Spaltprodukte einer zerbröselnden Nationalsprache sind, Partikel einer nicht mehr verfügbaren Draufsicht aufs Ganze, das sind bei André Müller bewusst gesetzte Akzente der Erinnerung an solche Draufsicht: Es gab einmal das vollständige Deutsch, das Luther und Goethe dem Gebrummel der Stände des Mittelalters abgerungen hatten. Es meinte die ganze Welt, und die Pflicht der Schriftsteller war es seither, sich um dieses vollständige Deutsch zu mühen, als Zeichen des heute so gern beschimpften „Universalismus“, als Kampfansage an das „schlechte Besondere“ (Hegel), an Rückständigkeit und Verstocktheit. Dass einer wie Peter Hacks nicht nur den Marxisten, nicht nur den Shakespeare-Interpreten, sondern eben auch den Dichter André Müller sen. zum Freund haben konnte, rührt eben daher, dass dieser wusste: Der Kampf um die vollständige Sprache der menschlichen Erfahrung (wie bei Hacks um die vollständige Sprache der menschlichen Utopie) muss heute weniger ein Kampf dafür sein, auch kaputtes, obszönes und finsteres Vokabular in die Kunst zu holen (wie Arno Schmidt das vollbracht hat), und eher einer dafür, nicht zu vergessen, dass das Hochdeutsche Sätze hat, mit denen man sich, obwohl sie aus der Vergangenheit kommen, Gegenwart und Zukunft erklären kann. Das bedeutende Ende von „Anne Willing“ beweist dies mit einem Matthias-Claudius-Zitat, ich will es hier nicht verraten, man lese die Passage im Zusammenhang nach.
Es wird sich auch in Zukunft lohnen, Deutsch zu können – man kann dann, nämlich, beispielsweise, die Bücher von André Müller sen. lesen.
Quelle: Unsere Zeit Nr. 10 vom 6. März 2015, Seite 11