Wie wollen wir leben? Bericht über die Veranstaltung am 20. Mai 2017

Die grosse Lüge der Medien ist, diese Welt kann nicht verändert werden
(Peter Hacks)

Im Jahr 2012 hat unser Verband in einem EXTRA-Heft mit dem Titel Die Richtigstellung der Begriffe seine Hauptaufgabe definiert. Ausgangspunkt ist unsere Grundüberzeugung, dass alle Menschen in der Lage sind, die Welt zu erkennen und es möglich ist, diese vernünftig einzurichten. Mit der russischen Oktoberrevolution waren die ersten Anfänge gemacht. Dieser Versuch scheiterte. Aber die Perspektive des Kommunismus ist nicht aus der Welt; 70 Jahre realer Sozialismus werden als wichtige historische Erfahrung genutzt werden können. Nun ist jedoch zu fragen, welche Vorarbeiten sind notwendig, damit die Mehrheit der Menschen wieder ‚zur Vernunft kommt‘?
Die Stärke des Imperialismus ist nicht nur ökonomisch und militärisch begründet. Er hat mittlerweile in grossen Teilen der von ihm beherrschten Länder die kulturelle Hegemonie, d.h. er formt die Verhaltens- und Denkmuster der Menschen. Und dies geschieht tagtäglich mittels der Medien, universitärer Ideologieproduzenten und mittels Konsummustern.
Die Stärke des Gegners aufzubrechen, bedeutet also auch, uns unsere eigene Kultur wieder zurückzuerobern. Hierfür bedarf es eines soliden Handwerkszeugs. Und das sind klare Begriffe, mit denen wir die Welt und unsere Stellung in ihr erkennen und beschreiben können.
Am 20. Mai haben wir im Freidenker-Zentrum mit Klaus von Raussendorff die ersten Schritte getan, um die grundlegenden Begriffe unserer philosophischen Weltanschauung zu rekapitulieren und uns zu vergewissern, wie profund unser Wissen darüber noch ist. Der Anlass für diese Veranstaltung war auch das auf dem Verbandstag 2016 in Potsdam beschlossene Vorhaben, das Freidenker-Lexikon neu aufzulegen. Die in ihm enthaltenen Begriffserklärungen sollen gesichtet und überarbeitet werden. Das Ziel ist, die grundlegenden philosophischen Kategorien und wissenschaftlichen Begriffe unserer Weltanschauung klar und auch für philosophisch ungeübte Leser verständlich darzustellen. Klaus ist mit der Redaktionsleitung betraut und hat auf unserer Veranstaltung den Entwurf für die ersten Kapitel vorgestellt. Zunächst, was ist Weltanschauung?

Weltanschauung
Gemeint ist hier nicht eine spezifische politische Meinung, sondern vielmehr wird mit ihr die Art und Weise bezeichnet, in der ein Subjekt die Welt anschaut, begreift und verändert. Weltanschauung ist also ein tätiges, dialektisches Verhältnis, in dem sich der Mensch auf seine Umwelt bezieht und in diesem Tun sich selbst verändert
„Wie schon der aus den Worten „Welt“ und „Anschauung“ gebildete Terminus zu verstehen gibt, besteht das Wesen der Weltanschauung in einem Verhältnis zwischen einem anschauenden Subjekt und dem angeschauten Objekt. Aber dieses Subjekt-Objekt-Verhältnis besteht keineswegs nur in Anschauung. Die Menschen treten zu der sie umgebenden menschlichen Umwelt in ein aktives, zweckgerichtetes und – dadurch bedingt – erkennendes, bewusstes Verhältnis.“(*)
Je entwickelter die Gesellschaften, d.h. je höher der Stand der Produktivkraft ist, desto umfassender können die Menschen ihre Umwelt erkennen und haben auch Werkzeuge/Erkenntnismethoden entwickelt, um ihre Umwelt zielgerichteter zu verändern.
„Die individuelle Weltanschauung der einzelnen Person, bei der materielle, ideelle und psychologische Faktoren einfließen, bildet sich in dem Maße, wie der Mensch als Persönlichkeit im Laufe des Lebens in der Lage ist, sich die materiellen wie geistigen Erscheinungen der Wirklichkeit anzueignen, und seinerseits in seiner Tätigkeit auf seine menschliche Umwelt einzuwirken. Umgekehrt beeinflusst die Weltanschauung das eigene Leben umso zuverlässiger, je mehr der Mensch in der Lage ist, sich im bewussten Erfassen der Entwicklung der gesamten Menschheit selbst auch als eine wirklich universelle Persönlichkeit zu entwickeln.“(*)
Zu unterscheiden ist die Weltanschauung vom Weltbild. Dieser Begriff wurde verwendet zur Kennzeichnung einzelwissenschaftlicher Sichtweisen auf die Welt – so z.B. das Kopernikanische, das Newtonsche etc. Mit ihm jedoch ist keine einheitliche philosophische Reflexion der Entwicklungsgeschichte des Menschen möglich. Und hier kommen wir auf den nächsten Begriff. Was ist der Mensch?

Der Mensch

Alle frühere Philosophie betrachtete den Menschen als Individuum, dem ein allgemeines,unveränderliches  Wesen innewohnent. Die historische Leistung des Denkens von Karl Marx – besteht in der Überwindung dieser einseitigen idealistischen Sichtweise. In den „Feuerbach über Thesen“ formuliert er den weltanschaulich revolutionären Satz: „Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (MEW 3/6)Damit ist gesagt, dass der Mensch in allen seinen Ausprägungen erst im Austausch mit der von ihm selbst geschaffenen Umwelt entsteht. Folglich besitzt der Mensch keine konstanten Eigenheiten (er ist gut/schlecht, ist egoistisch/altruistisch, ist faul/arbeitsam), sondern der Mensch entsteht und entwickelt sich im Austausch mit der Gesellschaft und ist sowohl Akteur in als auch Abbild von ihr – mit der Arbeit wird der Mensch ein Schöpfer seiner selbst.
„Daraus folgt, dass die Gesellschaft, entgegen der ideologischen Illusion nicht aus Individuen besteht, dass die Individuen als gesellschaftliche Wesen nicht die primären Elemente des Gesellschaftskörpers sind. Das menschliche Wesen befindet sich nicht auf der Seite der Individuen, sondern auf der Seite der gesellschaftlichen Verhältnisse. (Lucien Sève, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, Frankfurt: Marxistische Blätter, 1973. S. 102 )“(*)

Kommunismus

Jede Gesellschaft treibt in ihrer Entwicklung über sich hinaus: so auch die kapitalistische. Aber wohin treibt sie? Hierzu haben Marx/Engels in Die deutsche Ideologie folgende Aussage gemacht: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben [wird]. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung.(MEW 3/35)“(*)
Hieraus folgt zweierlei. Zum einen ist der Kommunismus keine Idee, die man haben kann oder auch nicht. Der Kommunismus ist vielmehr in den jetzigen Produktionsverhältnissen angelegt und er ist ein Prozess, der nicht nur die ökonomischen Besitzverhältnisse, sondern die gesamte Gesellschaft und damit jeden einzelnen Menschen verändern wird. Zum anderen ist der Kommunismus eine Notwendigkeit und zugleich eine Möglichkeit. Er tritt aber nicht ein wie ein naturgesetzlicher Prozess, sondern kann nur im bewussten Handeln der Menschen herbeigeführt werden. Damit ist eine Handlungsanweisung verbunden:
„Diese den Kapitalismus aufhebende Bewegung zu erforschen und das bewusste menschliche Einwirken auf diesen Prozess zu orientieren, ist eine zugleich wissenschaftlich-theoretische wie politisch-praktische Aufgabe, beruhend auf den grundlegenden Erkenntnissen des historischen Materialismus . Der Kommunismus ist somit in Einem der Prozess und das Resultat der Aufhebung aller großen historischen Entfremdungen, durch die sich das Menschengeschlecht bisher auf widersprüchliche Weise entwickelt hat. (Lucien Sève, Commencer par les fins – La nouvelle question communiste, Paris: La Dispute, 1999, S. 92 )“(*) In diesem Zitat werden zwei Begriffe verwendet, die es noch genauer zu klären gilt.

Historisch-materialistische Weltanschauung

Dieser Begriff ist von der Bestimmung des Menschen nicht zu trennen: der historische Materialismus hat die Aufgabe übernommen, die Entwicklungsgesetze der Menschheit und die unterschiedlichen Etappen darin aufzudecken.
„Historischer Materialismus ist die wissenschaftliche Grundlage der Auffassung des Welt- und Geschichtsprozesses, die von Karl Marx und Friedrich Engels konzipiert und in wesentlichen Zügen ausgearbeitet wurde. Er umfasst die Daseinsweise des Menschen von der Menschwerdung, über die historisch-progressive Ablösung einer Gesellschaftsformation durch eine höhere, bis zum Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus.“(*)
Die Darstellung des dialektischen Verhältnisses von Akteuren (den tätigen Menschen) und den Resultaten (die von den Akteuren veränderte Umwelt) bietet Erkenntnismöglichkeiten in jede Richtung:
„Sie (Marx und Engels) erschlossen den Weg zu einer wissenschaftlichen Anthropologie, zur Wissenschaft von der Geschichte, somit zur wissenschaftlichen Politik und zum wissenschaftlichen Humanismus und wissenschaftlichen Sozialismus.“ (*)
Nun haben wir in der Erörterung des Begriffes Kommunismus schon gesehen, dass die Herausbildung der letzten Etappe lediglich eine Möglichkeit ist. Obwohl die ‚Zeit reif‘ für eine neue Gesellschaft ist, ist der Weg dorthin steinig. Und diese Steine werden uns nicht nur von der herrschenden Klasse in den Weg gelegt.

Entfremdung

„Entfremdung als gelebte Erfahrung besteht darin, dass meine gesellschaftliche Tätigkeit ausweglos solchen Zielen unterworfen ist, die mit meinen Motiven nicht verträglich sind: Sie ist nach einer treffenden Formulierung das, was mich zwingt, mein Leben zu verlieren, um es zu gewinnen.“(*)
Jeder Mensch muss arbeiten, um nicht zu verhungern. Die Arbeit ist eine Konstante menschlichen Lebens. Die Art und Weise, wie er das tut, die Form der Arbeit ändert sich im Lauf der Geschichte. Ein Sklave hatte eine unmittelbare Anschauung von der Entfremdung seiner Arbeit, die auf außerökonomischem Zwang des Sklavenhalter beruhte. Der leibeigene Bauer im Feudalismus wusste genau, welcher Anteil an seinen Arbeitsergebnissen dem Feudalherrn zufiel.Ausbeutung besteht in allen Klassengesellschaften.
Doch die kapitalistische Produktionsweise jedoch treibt die Entfremdung auf die Spitze. Nicht nur, dass der kapitalistische Arbeiter ander als der  mittelalterliche Schmied, der Eigentümer seiner Produktionsmittel ist – sein Werkzeug war auch in der Verwendung noch ein ‚Diener seines Herrn‘ – kein unmittelbares Verhältnis mehr zum Produkt seiner Arbeit hat.. In der kapitalistischen Entfremdung kehrt sich dieses Verhältnis um. Die Maschine übernimmt das Kommando über den Arbeiter. Sie gibt das Arbeitstempo vor und entscheidet darüber, wer am Arbeitsplatz überflüssig ist. Die Werkzeuge führen scheinbar ein Eigenleben, obwohl sie doch von Menschen gemacht sind. Die für diese Verkehrung verantwortlichen Eigentumsverhältnisse sind jedoch nicht mehr sichtbar. Es entsteht außerdem vor allen die Illusion, dass der Lohn des Arbeiters der Preis für seine geleistete Arbeit ist, während der Kapitalist damit seine Arbeitskraft kauft, die einen Mehrwert erzeugt, der tatsächlich unbezahlte Arbeit darstellt. Damit dieses Ausbeutungsverhältnis aufgebrochen werden kann, müssen die Menschen die Mystifizierung (die sich ja täglich reproduziert) erkennen. Diese Aufgabe hat – wie schon oben gesehen – der historische Materialismus zu leisten.
In allen Formen der Arbeit stellt der arbeitende Mensch seine eigenen Produkte aus sich heraus, stellt sie sich als etwas Fremdes gegenüber. „So gelangte Marx unter Zugrundelegung der philosophischen Kategorie der Entfremdung im Sinne von Entäußerung zur Einsicht in die anthropologische Grundlage dafür, wie es unter historisch bedingten Umständen überhaupt möglich ist, dass die Entfremdung der Arbeit im Industriekapitalismus einen dem Arbeiter feindlichen Charakter annimmt, ja zu seiner Entmenschlichung führt. In der kapitalistischen Entfremdung sah Marx ein zwar tragisches aber notwendiges Durchgangsstadium, um zur Befreiung der Arbeit von ihrem Zwangscharakter im Kommunismus zu führen. Neben der Entdeckung des Charakters der kapitalistischen Entfremdung der Arbeit machte Marx eine zweite Entdeckung. Sie bezog sich auf die von ihm so bezeichnete „Menschenwelt“ bzw. „menschliche Umwelt“, den Komplex der materiellen Güter und zivilisatorischen Errungenschaften, die durch die menschliche Tätigkeit geschaffen und von einer Generation zur anderen weitergegeben werden. Diese Entdeckung des Menschen als Schöpfer seiner selbst ermöglichte beispielsweise das von Friedrich Engels genial erfasste Verständnis der Menschwerdung, d.h. der Rolle der Arbeit bei der Herausarbeitung des Menschen aus dem Tierreich.“(*)
In seinem Vortrag gab uns Klaus hartes Brot zu beißen. Für eine weitere Verständigung unter uns und vor allem mit Menschen, die wir mit Hilfe unseres neuen Lexikons an unseren Verband heranführen wollen, müssen wir die Erklärungen der für die Entwicklung selbständigen Denkens wichtigen Begriffe auch für philosophisch nicht gebildete Menschen verständlicher formulieren. Wir werden also noch einiges zu tun haben. Vielleicht – und das hat Klaus schon vorgeschlagen – können wir ein Seminar ausrichten, auf dem wir weiter an begrifflicher Klärung und gemeinverständlicher  Formulierung der grundlegenden Kategorien und Begriffe arbeiten werden. Einige Freidenker aus Frankfurt haben hieran schon Interesse angemeldet haben.

(*)zitiert aus den Vorentwürfen