Wir schaffen das – oder die gefährlichen Aspekte der Willkommenskultur – Text –

Von Dagmar Henn
(Text eines Vortrags im Kölner Freidenker-Zentrum am 18. Juni 2016)

 

Der Blick des Kolonisierten

„Denn in der ersten Phase des Aufstands muss getötet werden. Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch.“ (Jean Paul Sartres Vorwort zu Frantz Fanon, Die Verdammten dieser Erde)
Dieses Zitat zielt direkt ins Herz der zuckersüßen Lügen, mit denen wir seit dem vergangenen Jahr übergossen werden, und die in den letzten Tagen angefangen haben, sich in die Richtung zu wenden, die von Anbeginn zu fürchten war, mit Merkels Aussage, dass Menschen aus Syrien flüchten müssten, sei Russlands Schuld.

Aber lassen wir eine Reihe von Fragen beiseite. Sprechen wir nicht von den Absahnern, die Millionen an Billigunterkünften verdienen, von der Nutzung von Flüchtlingen als Machtinstrument gegenüber europäischen Nachbarn, von der völlig abiträren Haltung zu den eigenen Gesetzen des bürgerlichen Staates. Konzentrieren wir uns erst einmal auf die Art der Begegnung, die zwischen den unterschiedlichen Deutschen und den unterschiedlichen Flüchtlingen stattfindet, und warum keine der dominanten Erzählungen – die der bedingungslosen Flüchtlingsfreunde wie die der -feinde – den Eindruck erwecken, der Wahrheit auch  nur nahe zu kommen. Wir lassen auch beiseite, dass parallel zum Anschein geradezu überbordender Humanität die tatsächliche rechtliche Lage sich gegenteilig entwickelt hat.

Die Erzählung der „Willkommenskultur“ weist klare Rollen zu; auf der einen Seite die hilfsbereiten Deutschen, auf der anderen die notleidenden Syrer. Es ist schon zu merken, Kontrolle und Macht sind ungleich verteilt, es verbirgt sich noch in der herzerweichendsten Szene eine klare Hierarchie zwischen Subjekt und Objekt. Die Rollenerwartung an das Objekt ist eindeutig: es hat dankbar zu sein, sich anzupassen und dem Gegenüber die moralische Erhöhung zu gewähren, nach der es strebt. Das Objekt, so ist es nun einmal die Eigenschaft von Objekten, hat keine Geschichte, es ist genuin gesichtslos und nichts als Projektionsfläche für die Wünsche des Subjekts.

Dumm, dass das Objekt keines ist und sehr wohl Geschichte, Erwartungen (auch falsche und künstlich geschaffene) und Prägung mitbringt.

Nach der großen Welle des vergangenen Jahres geschahen eigenartige Dinge. In den Medien konnte man in all den Jahren zuvor sicher sein, wenn jemand mit Migrationshintergrund auch nur beim Nasebohren auf dem Marienplatz erwischt wurde, das mit voller Angabe der Herkunft in der Presse wiederzufinden. Seit dem letzten Sommer wirkt die Presselandschaft orientierungslos und oszilliert zwischen völligem Verschweigen und der gewohnten Schwarzzeichnung; ein Beispiel war erst vor zwei Tagen in der Münchner Presse zu lesen; eine Frau wurde von einer ganzen Gruppe Männer vergewaltigt; sofort wurde erklärt, es seien keine Flüchtlinge gewesen, nur um einen Tag später zu korrigieren, von fünf Festgenommenen seien vier junge Iraker, die erst seit wenigen Monaten im Land sind. Dieses ‚Flimmern‘ ist genau jene Reaktion, die die Entstehung zweier völlig entgegengesetzter Erzählungen födert, deren jede sich auf eigene Belege beruft.

Ich sehe schon das Zusammenzucken bei Erwähnung eines solchen Falls. ‚Das ist irgendeine rechte Hetze‘. Das ist ein Reflex; es darf nicht sein, dass diese jungen, männlichen Flüchtlinge ein Problem sind, nicht harmlos, nicht freundlich und dankbar. Warum eigentlich? Nun, wenn man an den Kern vordringt, deshalb, weil das vermeintlich freundliche, vermeintlich antirassistische deutsche Gegenüber eben dieses nicht ist und zur Aufrechterhaltung der eigenen ‚Willkommens‘-Position alles verleugnen muss, was nicht schön, nicht nett, nicht dankbar, widerborstig oder gar zornig und gewalttätig ist. Denn eben diese Eigenschaften darf das Objekt nicht haben. Sie sind in der Projektion des Subjekts nicht enthalten.

Die Wirklichkeit sieht anders aus, und das ist auch kein Wunder. Eine kleine Randinformation, die andeutet, wo man suchen muss: nach den Zwischenfällen zu Silvester nirgens erwähnt wurde, dass Marokko und Tunesien, die Länder, aus denen die meisten der identifizierten Täter stammten, Ziele des weiblichen europäischen Sextourismus sind. Diese Tatsache dürfte die Sicht auf europäische Frauen nicht unerheblich beeinflussen. Aber wer spricht schon von weiblichem Sextourismus, der sich immerhin eine emotionale Gewandung umlegt und so tut, als ginge es um vorübergehende Liebe, oder will wahrnehmen, dass das Geflecht aus Abhängigkeit und Erwartung, aus scheinbar mildem Zwang (so etwas wie eine Privatversion des IWF) tiefgreifende Spuren hinterlässt. Tourismus als organisierte Produktion und Reproduktion kolonialen Denkens wird schon längst nicht mehr kritisiert.

Um zu durchschauen, was gegenwärtig geschieht, muss man aber von Kolonialismus sprechen. Wir erleben (nun, ‚wir‘ eher nicht) momentan eine Welle von Kolonialkriegen, die darauf abzielen, die Reste von nach dem zweiten Weltkrieg errungener Freiheit und Souveränität auszulöschen. Diese Kriege verwirren, weil sie in vielen Ländern, die von ihnen erfasst werden, das blanke Chaos hinterlassen, die Anomie, und das Bild, das man von Kolonialismus hat, ist das der Endphase der ersten kolonialen Epoche, mit einer geordneten Kolonialverwaltung, einem schon verrechtlichten Raub. Der Nutzen eines solchen Zustands erschliesst sich nicht.

Der Anfang der Kolonisation ist allerdings wilder, zerstörerischer und zügelloser. Denn im ersten Schritt, vor der direkten Besetzung, vor der ökonomischen Integration, muss die bestehende Gesellschaft völlig zerschlagen werden. So konnten wir das im Irak sehen, in Libyen, so und nicht anders wird es gegenwärtig in Syrien versucht. Die Zerschlagung erfolgt über die maximale Nutzung jedes einzelnen ethnischen und kulturellen Widerspruchs in der Zielgesellschaft. Sie werden aufgeladen und zur Zündung gebracht, bis die bestehende Gesellschaft völlig in sich zusammenfällt; dann lässt man den Kessel des Chaos vor sich hin brodeln, bis jede Widerstandskraft aus der atomisierten Bevölkerung herausgegart ist, und erst dann tritt der Kolonialherr auf und reisst offen die Macht an sich, in einem Moment, in dem die Fremdherrschaft wie eine Erlösung scheint. Dieser Strategie folgten die Briten in Westafrika, dieser Strategie folgten die verbündeten europäischen Imperialisten in China. In beiden Fällen war die Phase der Auflösung nicht eine Frage von Jahren, sondern von Jahrzehnten. Recht und Gesetz, Infrastruktur, die schlichte Sicherheit des täglichen Überlebens, all das muss erst aufgerieben werden, damit es dankbar aus der Hand des weißen Mannes wieder empfangen werden kann.

„Die Stadt des Kolonialherren ist eine stabile Stadt, ganz aus Stein und Eisen, eine erleuchtete, asphaltierte Stadt, in der die Mülleimer von unbekannten, nie gesehenen, erträumen Resten überquellen, eine gemästete, faule Stadt. Ihr Bauch ist voll von guten Dingen. Die Stadt des Kolonisierten, das Negerdorf, die Medina, das Reservat ist ein Ort von schlechtem Ruf, bevölkert von Menschen mit schlechtem Ruf. Es ist eine niedergekauerte, hingelümmelte Stadt. Der Blick des Kolonisierten ist der Blick geilen Neides, der Besitzerträume. Aller Arten von Besitz: Sich an den Tisch des Kolonialherren setzen, in seinem Bett schlafen, wenn möglich mit seiner Frau. Der Kolonisierte ist ein Neider. Der Kolonialherr weiß das genau. Wenn er jenen Blick überrascht, stellt er mit Bitterkeit fest: Sie wollen unseren Platz einnehmen.“ Fanon

Dieses Zitat ist von Fanon selbst. Frantz Fanon war von Beruf Psychiater und ist eine der faszinierendsten Gestalten, die die antikolonialen Befreiungskämpfe des vergangenen Jahrhunderts hervorgebracht haben. In Martinique geboren, machte er sich auf den Weg Richtung Frankreich, um gegen den Faschismus zu kämpfen, und war bei der Befreiung von Paris mit dabei; studierte mit einem Veteranenstipendium Medizin, schrieb sein erstes Buch „ Schwarze Haut, Weiße Masken“ ursprünglich als – abgelehnte – Doktorarbeit, fand dann Arbeit an einer psychiatrischen Klinik bei Algier,, behandelte dort die Folterknechte des französischen Kolonialherrn wie deren Opfer, als der algerische Befreiungskampf tobte, und schloss sich diesem Befreiungskampf an, ging nach Tunis und war mehrere Jahre in der Führung der FLN. Hinter seinem frühen Tod 1961 an Leukämie wird ein Anschlag der CIA vermutet.

In seinem letzten Buch, „Die Verdammten dieser Erde“, befasste sich Fanon mit den Auswirkungen des Kolonialismus und mit der Notwendigkeit des Kampfes um Befreiung. Eine Notwendigkeit, die nicht eine rein äußerliche ist, eine ökonomische, sondern ebenso eine innere. Koloniale Macht verändert und verfälscht; sie erzieht zur Unterlegenheit, sie verhindert Stolz und Selbstwertgefühl, sie deformiert. Und sie deformiert, das belegt Fanon präzise, beide Seiten der Gleichung, den Kolonisierten wie den Kolonialherrn. Gleiches hat übrigens Marx über die Klassengesellschaft geschrieben, die nicht nur die Ohnmächtigen der Freiheit zur menschlichen Entwicklung beraubt, sondern ebenso die Mächtigen.

„Der Blick des Kolonisierten ist der Blick geilen Neides, der Besitzerträume. Aller Arten von Besitz: Sich an den Tisch des Kolonialherren setzen, in seinem Bett schlafen, wenn möglich mit seiner Frau.“

In der Zeit, zu der Fanon diese Zeilen schrieb, war Kolonialismus sehr gegenwärtig. Die politischen Bewegungen in den Kolonien befanden sich im Aufschwung; heute ist klar zu erkennen, sie hatten gewaltige Rückendeckung durch den Sieg der Sowjetunion im 2. Weltkrieg. Bis einige Jahre nach Ende des Vietnamkriegs war die Frage der kolonialen Abhängigkeit und der Befreiungsbewegungen auch in Europa präsent. Mittlerweile ist das nicht mehr so; viele sich links nennende Organisationen erklären die Frage des Imperialismus für obsolet, und schon gar nicht setzen sie sich mit der Frage auseinander, wie die Notwendigkeit der Befreiung und die Probleme ihrer Realisierung sich auf die Menschen auswirken, die unter diesen Bedingungen leben.

Fanons Zeilen sind eine exakte Beschreibung dessen, was in Köln letzten Silvester passiert ist. Sie benennen, was geschieht, wenn der Weg zur Selbstermächtigung noch versperrt ist und auf die Widersprüche der kolonialen Lage unbewusst und unpolitisch reagiert wird.

Die reflexartige Reaktion der deutschen Linken, jedes Ereignis dieser Art ins Reich der Fantasie und Propaganda zu verweisen, zeigt, wie weit schon jede Wahrnehmung für die wirklichen globalen Verhältnisse verloren gegangen ist. Denn die Bemühung, die Kollision zwischen jenem Blick des Kolonisierten und der friedlichen Welt der mitteleuropäischen Kolonialherren zu leugnen und ins Reich der Fantasie zu verweisen, erspart zwar die Auseinandersetzung mit den eigenen geschönten Erwartungen, beraubt aber das kolonisierte Gegenüber selbst des Anrechts auf unbewussten Zorn und zeugt von vollständiger Identifikation mit der kolonialen Macht der eigenen herrschenden Klasse.

Dabei befinden sich Befreiungsbestrebungen in allen kolonisierten Ländern in einer weit komplizierteren Lage als es zur Zeit Fanons der Fall war.

Zum einen wurde viel Mühe darauf verwandt, originäre Befreiungsbewegungen auszulöschen und schon das Wahrnehmen und Aussprechen sozialer Widersprüche unmöglich zu machen; in den nordafrikanischen und arabischen Ländern dient dazu die wahabitische Version des Islam, in Lateinamerika erfüllen diese Funktion evangelikale Sekten; beides Varianten von Religion, denen selbst das abgeht, was Marx die um die Ketten gewundene Rose nannte; sterile Umformungen, deren Kern nicht mehr das vergöttlichte menschliche Ideal ist, sondern die vergöttlichte Unmenschlichkeit.

Zum anderen hat die fortschreitende Kontraktion des kapitalistischen Systems, die inzwischen selbst imperialistische Kernländer deindustrialisiert und in einen kolonialen Status versetzt, wie am Beispiel Griechenlands gut zu beobachten, den Spielraum für jedwede eigene Entwicklung massiv eingeengt. Eine nachholende Industrialisierung, die ein zentraler Programmpunkt jeder souveränen Politik war, stösst auf eine derart hoch entwickelte Produktivkraft, dass der Absatz der eigenen Güter nur noch möglich ist, wenn die Produktion unter den Bedingungen unbarmherzigster Sklaverei stattfindet. Man kann an den Staaten Afrikas beobachten, wie die Versuche, eigene, wenn auch bescheidene Produktion aufzubauen, durch erpresste Freihandelsverträge untergraben und zu nichte gemacht werden. Es mag sein, dass sich durch die Entwicklung von BRICS ein neuer Spielraum eröffnet; aber momentan ist nicht nur die politische Entwicklung rückabgewickelt, auch die ökonomischen Perspektiven fehlen. (Wenn man nun beobachtet, dass sich mit der Möglichkeit der Automatisierung der Textilproduktion noch die letzten arbeitsintensiven Branchen im Lauf des nächsten Jahrzehnts wieder in den schrumpfenden Kern zurückbewegen dürften, wird klar, dass die Zukunftsaussichten, die den Prognosen nach schon hier finster sind, in der Peripherie der allerdunkelsten Neumondnacht gleichen; sekundäre Branchen wie der Tourismus sind bereits jetzt von der europäischen Krise schwer in Mitleidenschaft gezogen). Das alles natürlich unter der Voraussetzung, dass das ökonomische Weltsystem das bleibt, das es ist.

Es sind diese objektiven Bedingungen, die die individuelle Migration zu einer massenhaften Bewegung werden lassen, und es sind diese objektiven Bedingungen, die dazu führen, dass das Drama des Blicks des Kolonisierten uns damit vor die Haustür gelegt wird.

Aber wir selbst befinden uns in einer nicht wesentlich besseren Lage, auch die Widersprüche der deutschen Gesellschaft artikulieren sich unbewusst, auch hier ist schon die Sprache zur Benennung von Klassen und Klasseninteressen ein Territorium, das erst wieder erobert werden muss. Es gibt eine unübersehbare Notwendigkeit, Kämpfe zu führen, angesichts der unabweisbaren Kriegsgefahr, des drohenden Umschwungs in die bonapartistische Version der bürgerlichen Herrschaft, aber diese Kämpfe werden nicht geführt, schon gar nicht in der erforderlichen Schärfe.

Ganz im Gegenteil. Die „Willkommenskultur“ und die ihr folgenden vermeintlich antirassistischen Kampagnen wie „Aufstehen gegen Rassismus“ sind nichts als die stetig wiederholte Behauptung, hier sei alles gut und Widerstand oder Zorn seien unnötig, wenn nicht völlig verfehlt. Dabei handelt es sich bei der Position, die auf beiden Seiten als bekämpfenswert angesehen wird, der der „unanständigen“ Flüchtlinge wie der der vermeintlich rassistischen Deutschen, um eine im Widerspruch zu den Verhältnissen stehende, also um etwas, das als erster Schritt hin zu einer bewussten Befreiung begrüsst werden müsste.

Schlimmer noch, hinter dem zelebrierten „Humanismus“, der mit der einen Hand Flüchtlinge aufnimmt und mit der anderen Hand die Zerstörung ihrer Heimatländer orchestriert, verbirgt sich eine Sicht auf die Welt, die dem berüchtigten US-amerikanischen Exzeptionalismus, dem Gerede von der einen, unverzichtbaren Nation, in Nichts nachsteht. Angela Merkel im September letzten Jahres:

„Wenn so viele Menschen so viel auf sich nehmen, um ihren Traum von einem Leben in Deutschland zu erfüllen, dann stellt uns das ja nun wirklich nicht das schlechteste Zeugnis aus. Unsere Freiheit, unser Rechtsstaat, unsere wirtschaftliche Stärke, die Ordnung, wie wir zusammenleben das ist es, wovon Menschen träumen, die in ihrem Leben Verfolgung, Krieg, Willkür kennengelernt haben. Die Welt sieht Deutschland als ein Land der Hoffnung und der Chancen, und das war nun wirklich nicht immer so.“

Es überrascht nicht, dass Merkel hier offen mit der Arroganz einer Kolonialmacht spricht. Es überrascht weitaus mehr, wenn in weiten Teilen der deutschen Linken dieser Ton nicht mehr als das erkannt wird, was er ist, sondern eine Erzählung, die aus dem Herzen der Finsternis die Insel der Seligen macht, freiwillig und mit großem persönlichen Einsatz gestützt wird.

„Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt. Ganze Jahrhunderte hat Europa nun schon den Fortschritt bei anderen Menschen aufgehalten und sie für seine Zwecke und seinen Ruhm unterjocht; ganze Jahrhunderte hat es im Namen seines angeblichen ‚geistigen Abenteuers‘ fast die ganze Menschheit erstickt.“

Um den Punkt zu finden, an dem die herbeigezwungene Begegnung anders als verheerend endet, braucht es zuerst einen klaren Blick auf dieses Land und seine Rolle in der Welt. Für den hier Hineingeworfenen ist kein innerer Widerspruch sichtbar, das wäre er nur, wenn reale Kämpfe sichtbar wären; dem unbewussten Zorn tritt also ein kollektiver Kolonialherr gegenüber, dessen Klassenwiderspruch nicht sinnlich erfasst werden kann. Gleichzeitig gründet die Gegenreaktion, die sich hierzulande sehen lässt, nicht nur in den klassenkämpferischen Nebenbotschaften der „Willkommenskultur“, der geradezu penetranten Verleugnung des heimischen Elends, sondern auch in der Wahrnehmung dieses Zorns, des Blicks des Kolonisierten, ebenso unbewusst wie dieser Blick selbst; eine Wahrnehmung, die keine Fiktion ist. „Sie wollen unseren Platz einnehmen.“

Die Aufhebung dieser doppelten Gefangenschaft gelingt nur durch Bewusstheit und durch wirkliche Auseinandersetzung. Hier liegt aber das nächste Problem, eines, das für die domestizierte europäische Arbeiterbewegung, soweit sie noch konstituiert ist, eine größere strategische Herausforderung darstellt.

In Portugal hat sich das vor zwei Jahren deutlich gezeigt. Im April 2013 waren dort eineinhalb Millionen Menschen auf der Straße, um den Rücktritt der Regierung zu fordern. Portugal ist ein kleines Land; es waren über 12% der Bevölkerung an diesem Tag auf der Straße. Ich kann mich – da mag mein historisches Gedächtnis zugegeben lückenhaft sein – nur an zwei Momente erinnern, an denen Demonstrationen so umfassend waren. Die erste war Teheran vor dem Sturz des Shah, die zweite auf den Phillipinen vor dem Abgang von Marcos. In beiden Fällen führten diese Demonstrationen dazu, dass binnen weniger als 24 Stunden die bestehende Regierung ein Flugzeug bestieg und das Land verließ.

In Portugal geschah nichts.

Warum? Weil eine nötige Hälfte mit dem Ende der Sowjetunion verloren gegangen ist; denn es ging nie nur um die Waffen der Kritik, es ging immer auch um die Kritik der Waffen; bis 1989 war die Glaubwürdigkeit einer weiteren Eskalation von selbst gegeben, dadurch wurden Machtwechsel ohne größeren Einsatz materieller Gewalt erst möglich. Die strategischen Konsequenzen dieser Entwaffnung sind noch nicht wahrgenommen, geschweige denn die sich daraus ergebenden Fragen beantwortet. Wie man zu wirksamen Auseinandersetzungen gelangen kann, ist unklar, und dem Problem wird lieber ausgewichen, indem man sich auf die Wiederholung erprobter politischer Rituale zurückzieht. Klar ist: der Preis für politische Erfolge wurde deutlich erhöht. Die erforderliche Kühnheit nicht aufzubringen hiesse aber nur, der Barbarei das Feld zu überlassen.

Die selben starken ökonomischen Zwänge, die die imperialistischen Mächte zum Krieg treiben, um die eigene Macht selbst um den Preis der Vernichtung der Menschheit zu sichern, die die Möglichkeiten der Befreiung in der Peripherie so ungeheuer einschränken und selbst hier die politische Macht zerbrechlich wirken lassen, schon ohne dass eine nennenswerte Bewegung von unten erkennbar wäre, sind das Zeichen dafür, dass wir an der Schwelle vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit stehen. Das Bestehende muss zertrümmert werden, um den Weg freizugeben. Dafür ist es allerdings unabdingbar, heute so zu denken, als stünde es morgen an, selbst wenn es bis übermorgen oder länger dauert. Vieles kann sich blitzartig ändern.

Eine Ahnung davon gibt mein allerliebstes Lenin-Zitat. Ich sage erst einmal nicht, von wann es stammt.

„Wir, die Alten, werden vielleicht die entscheidenden Kämpfe dieser kommenden Revolution nicht erleben. Aber ich glaube mit großer Zuversicht die Hoffnung aussprechen zu dürfen, daß die Jugendlichen, die so ausgezeichnet in der sozialistischen Bewegung der Schweiz und der ganzen Welt arbeiten, daß sie das Glück haben werden, nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu siegen in der kommenden proletarischen Revolution.“

Und jetzt, warum ich dieses Zitat so liebe. Es gibt Grund zu ungeheurem Optimismus. Es stammt aus einem Vortrag über die russische Revolution von 1905. Gehalten in Zürich, am 22. Januar des Jahres 1917.